Evangelium
In jener Zeit sprach Jesus: Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, lässt die Schafe im Stich und flieht, wenn er den Wolf kommen sieht; und der Wolf reißt sie und jagt sie auseinander. Er flieht, weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt. Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe. Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen, und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten. Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen. Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es aus freiem Willen hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen. Diesen Auftrag habe ich von meinem Vater empfangen.
Johannes 10,11–18
Allein, wir sind allein, wir kommen und wir gehen ganz allein. Wir mögen noch so sehr geliebt, von Zuneigung umgeben sein, die Kreuzwege des Lebens gehn wir immer ganz allein. Allein, wir sind allein, wir kommen und wir gehen ganz allein.
So heißt es in einem weniger bekannten und eher melancholischen Lied des Liedermachers Reinhard Mey. Allein zu sein ist eine der menschlichen Grunderfahrungen. Es ist zugleich auch eine der Urängste des Menschen. Wird jemand da sein, wenn ich dringend einen anderen Menschen brauche?
Es ist auch eine der Grundängste Gott gegenüber: Kann ich mich auf meinen Gott verlassen? Ist er treu? Wird er mich nicht im Stich lassen, wenn ich in Not gerate, wenn es schwer wird? Wird er mich auch dann nicht im Stich lassen, wenn mein Leben einmal zu Ende geht?
Auf alle diese Fragen haben Menschen schon vor Jahrtausenden eine tröstende Antwort gefunden im Bild von Gott als dem guten Hirten. Der Psalm 23 ist für mich der schönste Psalm überhaupt und er hat mir schon oft geholfen:
Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen; er leitet mich auf rechten Pfaden treu seinem Namen. Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht.
Ich weiß, dieses unheimliche Vertrauen, das in diesem poetischen Text zum Ausdruck kommt, spricht auch viele rationale Menschen auf einer tiefen Ebene an. Der Philosoph Immanuel Kant, ein Denker, ein totaler Kopf-Mensch, hat gesagt: „Ich habe Tausende von Büchern in meinem Leben gelesen. In all den Büchern hat kein Satz mich so berührt wie der: Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil. Denn du bist bei mir.“
Dieses Bild vom guten Hirten haben die ersten Christen auf Jesus übertragen: Niemand ist so sehr guter Hirt wie Jesus, weil er sein Leben hingegeben hat, weil er dabeigeblieben ist, auch dann, als es unerträglich schwer wurde. Er ist der beste Hirte, den man sich vorstellen kann, weil er ja sogar sein Leben hingibt für seine Schafe.
Ob uns das mit unserer Angst helfen kann? Mit unserer tiefen Angst, allein gelassen zu werden! Wie können wir etwas spüren vom Mantel des guten Hirten? Antoine de Saint-Exupery schreibt: „Herr, leih mir ein Stück von deinem Mantel, damit ich die Menschen mit der Last ihrer großen Sehnsucht darunter berge!“
Den guten Hirten erlebe ich da, wo ein anderer mir ein Stück leiht von seinem Mantel. Wo ein Mensch da bleibt, auch wenn es schwer wird, lässt mich das etwas ahnen von der Treue Gottes. Und: Der gute Hirt bin ich auf einmal selbst. Das macht fast Angst. Mein Mantel ist oft zu kurz. Ich kann oft nichts machen. Aber das ist auch gar nicht von mir verlangt. Auch der gute Hirte erspart das Schwere nicht, die finstere Schlucht, den reißenden Wolf. Aber er bleibt dabei. Und das gibt die Kraft zu bestehen, auch in schweren Zeiten und auf harten Wegen.
Wie gut tut es oft, wenn einfach nur jemand da ist, Der Mantel des guten Hirten wird spürbar, wenn die Mitarbeiterin in der Bahnhofsmission sich Zeit nimmt für ein Gespräch mit der Frau ohne festen Wohnsitz, wenn die Erzieherin im Kindergarten das Kind in den Arm nimmt, das gestürzt ist, wenn der Krankenbesuchsdienst einer Pfarrgemeinde sich aufmacht, um Patienten im Krankenhaus zu besuchen, wenn der Mitarbeiter der Hospizbewegung Nachtwache hält bei einem Sterbenden.
Ich wünsche uns solche Erfahrungen des „Guten-Hirten-Mantels“, damit dadurch Schritt für Schritt in uns das Vertrauen wächst: Er, der beste Hirte, ist dabei. Er lässt uns nicht allein, er geht mit durch die finstere Schlucht.
Allein, sind wir allein? Wir kommen und wir gehen nicht allein!
Der Autor ist Pfarrer von Niederwerrn und Oberwerrn.